Die Geschichte vom Hufeisen: Warum der Extremismusbegriff überholt ist – Hanna Reichhardt & Lasse Rebbin

- Posted by Author: Pauline Schur in Category: | 5 min read

Das Zukunftsprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2021 beschäftigt sich auch mit Gefahren und Herausforderungen für die Demokratie. Ziel des Programms ist es, die demokratischen Strukturen in Deutschland zu stärken. Wir haben uns das Wahlprogramm intensiv angeguckt und denken, dass viele gute Forderungen im Wahlprogramm stehen.

Wir begrüßen es, dass der Begriff  “Rasse” endlich aus dem Grundgesetz gestrichen werden, eine intensivere Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands stattfinden soll und wir Rechtsradikale konsequent aus dem Staatsdienst ausschließen wollen. Allerdings gibt es aus unserem antifaschistischen Verständnis heraus noch Verbesserungspotenzial. Die notwendigen Verbesserungen wollen wir in diesem Artikel darstellen. Denn für uns ist klar: Unser Bundestagswahlkampf ist antifaschistisch!

Die Hufeisentheorie ist längst überholt

Unsere Verfassungsschutzbehörden arbeiten täglich mit Extremismusbegriffen. Alles, was sich, egal in welcher Form, gegen den demokratischen Rechtsstaat richtet, wird als extremistisch eingestuft. Fernab von weiterer Differenzierung werden auf diese Weise unterschiedliche Phänomene in einen Topf geworfen, die eigentlich nicht weiter voneinander entfernt sein könnten. Die Hufeisentheorie, die keinen Unterschied zwischen Rechts- und Linksextremismus macht, lässt grüßen. Stets gilt extremistisch als unnormal und kompromisslos, während nur die vermeintliche Mitte die einzige demokratische Legitimität besitze. Doch das greift auf vielen Ebenen zu kurz.

Zum einen lässt diese Gleichsetzung verschiedener sogenannter Extremismusformen ihre Eigenheiten außer Acht. Darüber hinaus schließen sich Extremismus und Demokratie aus. Man oder etwas ist entweder demokratisch oder extremistisch. Und alles, was sich zu weit von der vermeintlichen Mitte entfernt, kann nur extremistisch sein. Also bildet extremistisch in dieser Logik auch gleichzeitig das Gegenteil von demokratisch.

Diese unterkomplexe Schwarz-Weiß-Darstellung erleichtert es, dass vor allem gewaltbereite rechte Strukturen, Rassismen und Antisemitismus seit Jahren wachsen können. Sie werden zu einem Randphänomen gemacht, bagatellisiert und als angebliche Einzelfälle abgetan. Nach der sehr vereinfachten Logik können sie schließlich nicht in der vielbeschworenen Mitte stattfinden. Und wo im eingeschränkten Rechts-Links-Schema passt eigentlich „Islamismus“ rein?

Das Hufeisen macht Antifaschismus unmöglich

Was für den Verfassungsschutz und auch in vielen Parteien alltäglich verwendet wird, verkennt die Vielschichtigkeit zwischen demokratisch und antidemokratisch, zwischen links und rechts. Genau genommen lässt die Verwendung des Extremismusbegriffs keinerlei Aussage über die demokratischen oder antidemokratischen Tendenzen in einer Gesellschaft zu, obwohl doch genau das das angebliche Ansinnen derjenigen ist, die diesen Begriff verwenden.

Anstatt mit diesem Begriff also die dringenden Probleme und die akute Gefahr für beispielsweise von Rassismus betroffenen Menschen anzugehen, verschleiert der Extremismusbegriff eher den dringenden Handlungsbedarf. Er kann gar nicht die Perspektive besitzen, um notwendige Schritte zu tun.

Wir müssen damit aufhören, den Extremismusbegriff sowie die Hufeisentheorie zu verwenden, da es uns nicht weiter als zu Lippenbekenntnissen führt. Der politische Stillstand, der zu Recht von Betroffenen rassistischer Gewalt angeprangert wird, muss aufgebrochen werden. Dazu müssen wir anfangen, die Dinge wirklich beim Namen zu nennen.

„Zu sagen, was ist, ist die revolutionärste Tat“

„Zu sagen, was ist, ist die revolutionärste Tat“, wusste schon Rosa Luxemburg, und auch heute können wir uns ihre Worte weiter zu Herzen nehmen. Wir müssen von völkischem Nationalismus, rassistischen oder antisemitischen Motiven sprechen, bevor wir alles unter dem Sammelbegriff des Rechtsextremismus abtun.

Das unterkomplexe Schwarz-Weiß Denken spiegelt sich auch in der grundsätzlichen Arbeit des Bundesverfassungsschutzes und der Verfassungsschutzbehörden der Länder wider. Jahrelang konnten wir beobachten, wie der Verfassungsschutz den Schwerpunkt seiner Arbeit auf die vermeintlich schlimmeren Gefahren des Islamismus konzentriert hat, während rechtsradikale Gruppierungen und Einzelpersonen oft nur sehr weich behandelt wurden.

NSU und der Verfassungsschutz

Dabei sagen die Zahlen etwas ganz anderes: die Amadeu-Antonio-Stiftung zählte im Januar 2021 208 Todesopfer durch rechtsradikale Gewalt. Die Mordserie, die durch den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) verübt wurde, stellt wohl eine der grausamsten und schlimmsten Tötungsdelikte dieser Art dar. Dabei soll der Thüringer Verfassungsschutz indirekt die im Untergrund lebenden Mitglieder mitfinanziert haben.

Weiterhin soll der Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, Andreas Tremme, bei der Ermordung von Halit Yozgat 2006 in einem Internetcafé durch den NSU kurz vorher oder während der Tat anwesend gewesen sein. Tremme wurde zwar entlassen und seine Verstrickung ist unklar, aber es zeigt die beängstigenden Verbindungen des hessischen Verfassungsschutzes zum NSU beispielhaft auf.

Kein Bekenntnis zum Verfassungsschutz im Zukunftsprogramm!

Deshalb ist und bleibt es ein Skandal, wenn in Hessen die Unterlagen des Verfassungsschutzes zum NSU bis 2044 nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Diese Unterlagen müssen sofort freigegeben werden! Weitere Verstrickungen der Verfassungsschutzbehörden mit Rechtsradikalen gibt es seit der Gründungszeit (Rekrutierung von Nazis) bis zum ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der nicht nur im regelmäßigen Austausch mit AfD-Politiker*innen steht, sondern auch die rassistischen Gewalttaten in Chemnitz 2018 infrage stellte.

Übrigens: Hans-Georg Maaßen ist sehr aktiv auf Twitter und lässt sich gerne zu mindestens fragwürdigen Aussagen hinreißen. So seien die Jusos laut Maaßen ein Prüffall für den Verfassungsschutz. Durch den Druck der SPD wurde Maaßen zwar mittlerweile in den Ruhestand versetzt, aber der Verfassungsschutz ist und bleibt mit seinen unzähligen Fehlern grundsätzlich problematisch. Deshalb wollen wir kein Bekenntnis zum Verfassungsschutz im Zukunftsprogramm der SPD!

Die Dinge beim Namen nennen

Wenn wir gegen Rassismus und andere menschenfeindliche Ideologien kämpfen wollen, gehört für uns die klare Benennung der Probleme dazu. Denn Sprache formt die Gesellschaft. Wir wollen nicht von einer Islamfeindlichkeit sprechen, denn dieser Begriff reduziert rassistisches Handeln gegen muslimisch gelesene Personen auf religiöse Aspekte.

Vielmehr wollen wir es als das benennen, was es ist: antimuslimischer Rassismus. Auch diskriminierendes Verhalten gegenüber Sinti*zze und Rom*nja muss klar als Antiromaismus und Antisiganismus benannt werden. Es ist für uns unerträglich, wenn sich weiße Deutsche in Talkshows darüber lustig machen, dass der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma veraltete Begriffe für Paprikasaucen als diskriminierend einstuft. Deshalb wollen wir nicht von “Antiziganismus”, sondern Antiromaismus und Antisiganismus in unserem Wahlprogramm sprechen und diesen ganz klar bekämpfen!

Die SPD muss die Stimme von Betroffenen sichtbar machen. Wir müssen zuhören, Kritik annehmen und diese in konkrete Forderungen umsetzen. Unser antifaschistischer Kampf darf nicht aus leeren Lippenbekenntnissen bestehen, sondern muss immer das Ziel haben, diskriminierende Strukturen aufzubrechen und zu verändern. Nur so können wir glaubhaft für uns in Anspruch nehmen, für und mit Betroffenen Politik zu machen.

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