Die Irrfahrt vor dem Crash beenden: Rettet uns vor der Schuldenbremse! – Philipp Türmer

- Posted by Author: marcotiberio in Category: | 6 min read

Seit circa vier Jahren hat sich auch in Deutschland – mit lediglich knappen zehn Jahren Verspätung – die Erkenntnis durchgesetzt, dass Framing in der politischen Kommunikation wichtig sein könnte. Auch wenn die Namensgebung bestimmter Gesetze aus sozialdemokratischen Ressorts den Eindruck vermittelt, dass man es damit übertreiben kann, so ist die “Schuldenbremse” eines dieser Instrumente, bei denen es besonders eindrücklich wird, dass ein Name sehr irreführend sein kann. Denn egal ob “Investitionsbremse”, “Klimaschutzbremse” oder “Zukunftsbremse”, viele Begriffe wären geeigneter für diese Ausgeburt feuchter neoliberaler Träume aus dem Jahr 2009.

Danke für nichts, Art. 115 GG

Über 60 Änderungen gab es mittlerweile am Grundgesetz, seitdem es 1949 in Kraft trat. Einige davon, wie das wenig ehrenhafte Herumdoktern am Asylrecht (Art. 16a GG) bleiben dabei in besonders negativer Erinnerung. In der Reihe der außerordentlichen Pleiten verdienen jedoch Art. 109 GG und Art. 115 GG ebenfalls eine herausgehobene Erwähnung. Mit Absatz 3 des Artikels 109 wurde die Schuldenbremse damals sowohl für den Bund als auch die Länder eingeführt.

Für den Bund erfährt sie wiederum in Art. 115 GG ihre nähere Ausgestaltung. Eingebracht wurde die Änderung im Jahr 2009 von der ersten großen Koalition unter Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück. Sie sollte eine Reaktion auf die seit Jahren ansteigenden öffentlichen Defizite darstellen. Widerstand gab es zwar aus dem linken Flügel der SPD-Bundestagsfraktion, letztlich gaben jedoch bis auf 19 Abgeordnete alle dem Druck aus Partei- und Fraktionsspitze (Müntefering und Struck) sowie Kanzlerkandidat (Steinmeier) und Finanzministerium nach.

Die Bazooka-Ausnahme

Dabei gelten für Bund und Länder unterschiedliche Regeln. Die Schuldenbremse für die Länder, die in Art. 109 Abs.3 GG verankert ist und inzwischen in vielen Landesverfassungen (12 von 16) ihre Entsprechung findet, ist strenger als das Regime, dem sich der Bund in Art. 115 GG unterworfen hat. Dem Bund ist es erlaubt, um bis zu 0,35 Prozent des BIPs jährlich ins Minus zu gehen (Nettokreditaufnahme), moderate Abweichungen in einzelnen Jahren abhängig von der konjunkturellen Entwicklung sind zudem möglich.

In den Ländern hingegen müssen die Haushalte vollständig ausgeglichen sein, die Ausnahme der 0,35 Prozent ist nicht vorgesehen. Sowohl für Bund als auch für Länder gibt es jedoch die Möglichkeit, in außergewöhnlichen Notlagen mittels Gesetz die Schuldenbremse für den jeweiligen Haushalt quasi außer Kraft zu setzen, um so den finanzpolitischen Spielraum kurzfristig zu erweitern. So geschehen auch während der Corona-Pandemie, um die wahlweise sprichwörtliche oder vorgebliche “Bazooka” zu aktivieren.

Ausgehend davon könnte man den Standpunkt vertreten, dass die Schuldenbremse doch gar nicht so schlimm wäre, so sie doch im Ernstfall außer Kraft gesetzt werden kann. Bei der Schuldenbremse ist jedoch nicht der Ernstfall, sondern der Normalzustand das Problem.

Der Regelfall ist das Problem

Zunächst liegt der Schuldenbremse der neoliberale Irrglaube zugrunde, dass staatliche Schulden grundsätzlich nachteilhaft seien, und entspringt somit der im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch innerhalb der deutschen Mainstreamökonomie weitgehend dominanten ordoliberalen und monetaristischen Denkschule. Gerade in den letzten Jahren verliert diese jedoch zunehmend an Boden.

Ihr liegt ein mangelhaftes volkswirtschaftliches Verständnis von Schulden zugrunde und die Erfahrungen aus der EU-”Schuldenkrise” und der Vergleich mit anderen Ländern wie den USA oder Japan zeigen, dass ein einseitiger Fokus auf die Staatsverschuldung irreführend ist. Wesentlich erscheint, wenn überhaupt, die Gesamtverschuldung einer Volkswirtschaft, welche wiederum in direkter Abhängigkeit von der Leistungsbilanz (Export/Import-Überschüsse) der jeweiligen Länder steht.

Der Fokus sollte also darauf liegen, wofür staatliches Geld ausgegeben wird, also die notwendigen Investitionen in den Blick zu nehmen und nicht die Finanzierungsseite isoliert zu betrachten.

Die Union und das Märchen der Haushaltsdisziplin

2020 nahm der Bund aufgrund der Corona-Pandemie 130,5 Milliarden Euro neue Schulden auf. Für 2021 wird mit Kreditaufnahmen in Höhe von 180 Milliarden geplant. All dies dient zur akuten Bewältigung der Krise und kann somit als “Notlage” mit der Schuldenbremse in Einklang gebracht werden.

Die Probleme treten jedoch mit Bewältigung der Krise ein. Bereits jetzt werden insbesondere die Rufe aus der Union laut, die aktuelle Ausgabenpolitik müsste durch anschließende Haushaltsdisziplin wieder ausgeglichen werden. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse bereitet diesen Forderungen das verfassungsrechtliche Fundament.

Ab 2022 werden die öffentlichen Haushalte sich wieder an den Maßgaben von Art 109 und 115 GG messen lassen müssen. Zusätzlicher Druck entsteht dadurch, dass staatliche Schulden in aller Regel nicht zurückgezahlt, sondern durch neue Kredite abgelöst werden.

Sollte die derzeitige Niedrigzinsphase der inflationsorientierten Politik der EZB zu einem Ende kommen, würde dies angesichts der zusätzlichen Ausgaben in 2020/21 bei der Refinanzierung zu zusätzlichen Belastungen führen. Damit wird der Spielraum für politische Entscheidungen unter Voraussetzung der Schuldenbremse stark verringert.

Der Kostendruck steigt

Schlimmer sieht es noch in den Ländern aus. Einerseits gelten für sie die schärferen Begrenzungen, andererseits machen Fixausgaben, insbesondere Personalkosten in Form von voraussichtlich stark ansteigenden Pensionskosten, einen deutlich größeren Anteil an den zumindest westdeutschen Länderhaushalten aus. Wie sich der hierdurch entstehende Kostendruck in Bereichen wie der Bildungspolitik oder der finanziellen Unterstützung klammer Kommunen auswirken könnte, kann aktuell nur erahnt werden.

2019 haben sich Norbert-Walter Borjans und Saskia Esken der ursprünglich von Arbeitnehmenden- und Arbeitgeberseite formulierten Forderung nach einem 500 Milliarden Euro Investitionspaket innerhalb der nächsten zehn Jahre angeschlossen. Auf dem Parteitag 2019, auf dem Eskabo als neue Vorsitzende bestätigt wurden, fand diese Forderung nach massiven Investitionen Eingang in die Programmatik der SPD.

Auch die Grünen haben sich dem mittlerweile angeschlossen. Angesichts des massiven Investitionsstaus, der insbesondere in den Kommunen und der bundesdeutschen Infrastruktur angefallen ist, erscheint ein Investitionsprogramm dieses Ausmaßes dringend erforderlich.

Vor dem Hintergrund der Jahrhundertaufgabe der sozial-ökologischen Transformation zur Bewältigung des Klimawandels der deutschen (Industrie-)Gesellschaft erscheinen diese Dimensionen sogar fast noch zu klein gedacht. Geht man davon aus, dass Long-Covid nicht nur Corona-Erkrankte, sondern auch die gesamte Volkswirtschaft weiteren Belastungen aussetzen wird, wachsen die Herausforderungen zusätzlich.

Keine Investitionen mit Schuldenbremse

Bleibt die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert, werden die Voraussetzungen fehlen, die dringend notwendigen Investitionen zu tätigen. Eine Finanzierung könnte dann nur über massive Steuererhöhungen stattfinden. Diese müssten zudem so zielgenau ausgestaltet sein, dass sie keine negativen Rückkopplungseffekte entfalten, die einen Teil der Investitionsbemühungen wiederum zunichtemachen könnten.

Es kann ganz allgemein in Zweifel gezogen werden, ob Steuererhöhungen zur Finanzierung von Investitionen das geeignete Mittel sind. Gleichzeitig wäre mehr als ein politisches Erdbeben erforderlich, das die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesrepublik ganz erheblich verschiebt, um für Steuererhöhungen dieser Größenordnung nach einer der größten konjunkturellen Krise der deutschen Nachkriegsgeschichte die politischen Mehrheiten zu beschaffen.

Schuldenbremse oder sozial-ökologischer Wandel?

Alles in allem kann daraus gefolgert werden: Entweder fällt die Schuldenbremse oder die Voraussetzungen für die Transformationsaufgaben, die der Bundesrepublik nach 16 Jahren CDU-geführter Bundesregierungen der Stagnation angewachsen sind, werden schlicht fehlen. Egal welche Regierung ab September 2021 im Amt ist, sie wäre ihrer politischen Handlungsfähigkeit weitestgehend beraubt.

Nicht nur aus den Reihen der Ökonom*innen steigt deswegen der Druck auf die Schuldenbremse. Auch in der SPD formulieren zunehmend offensiv Bundestagsabgeordnete wie Cansel Kiziltepe oder Michael Schrodi ihre Kritik. Norbert-Walter Borjans und Saskia Esken haben bereits 2019 unmissverständlich klar gemacht, dass sie die Schuldenbremse als historischen Fehler betrachten. Sogar Helge Braun formulierte zuletzt Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses fiskalpolitischen Instruments.

Im Wahlprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2021 gilt es nun Nägel mit Köpfen zu machen. Die Forderung nach der Abschaffung der Schuldenbremse ist Voraussetzung dafür, dass all die Zukunftsaufgaben, mögen sie auch Missionen heißen, endlich aufgenommen werden. Nur sie verleiht ihnen die notwendige Glaubwürdigkeit. Wer rein in eine klimaneutrale und sozial-gerechte Zukunft möchte, der muss zunächst raus aus der Schuldenbremse, wenn ein Wahlprogramm nicht nur positiv geframed, sondern auch finanzpolitisch fundiert sein soll.

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