Sorgt euch! Von der zu kurz gedachten Reproduktion zur immer noch unsichtbaren Carearbeit – Greta Maurer und Nina Gaedicke
Wie kann es eigentlich sein, dass Carearbeit im Allgemeinen und unbezahlte Carearbeit im Besonderen diesen abgewerteten, unsichtbaren Stellenwert in einer Gesellschaft hat, die zu 100% auf sie angewiesen ist? Und wie kann es darüber hinaus (oder gerade deswegen?) sein, dass es vor allem Frauen* sind, die diese Arbeit immer noch größtenteils alleine verrichten, und die gesamte Abwertung und Unsichtbarkeit durch Mehrfachbelastungen schultern müssen? Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie wir als Gesellschaft eigentlich aus diesen Strukturen raus kommen und ob „Lohn für Hausarbeit“ oder die Professionalisierung aller Caretätigkeiten die Lösung sein kann.
Dass unsere Gesellschaft über bezahlte und unbezahlte Arbeit organisiert ist, sich in eine öffentliche und eine private Sphäre spaltet und das alles mit einer Werte- und Geschlechterhierachie einhergeht, ist weder naturgegeben noch existiert diese Verteilung seit dem Mittelalter. Laut Silvia Federicis hat erst der Übergang von der Ständegesellschaft zum Kapitalismus während der Industrialisierung zur klaren Trennung von Arbeit und Leben, und damit auch zur Einteilung weiblicher und männlicher Sphären, geführt. Praktischerweise musste das Patriarchat im beginnenden Kapitalismus aber nicht mehr erfunden werden, sodass man sich einfach an Rollenbildern orientieren konnte, die schon vorher konstruiert worden waren. Geführt hat das zu einer Logik, die sich bis heute hartnäckig hält: Männern wird die öffentliche, rationale, und politische Sphäre zugeschrieben und Frauen* die private, emotionale, körperlich-natürliche Sphäre. Alles was im Privaten passiert, gilt also vor allem als kostenlose Naturressource und Liebesdienst, für die keine große Energie aufgewendet werden muss und auch keine Anerkennung.
Vielleicht gar nicht so überraschend, dass Marx seine arbeitswerttheoretischen Überlegungen vor allem „vom Standpunkt des entlohnten Industrieproletariats“ her gedacht hat. Und ebenso wenig überraschend, dass die marxistische Betrachtungsweisen auf den Kapitalismus die Warenförmigkeit von Arbeit ins Zentrum ihrer Analyse stellen und alle anderen gesellschaftlichen Sphären dem nachgeordnet sind. Natürlich wusste auch Marx, dass sich Arbeiter*innen nicht von selbst regenerieren, so dass Kosten, die es braucht um die Ware Arbeitskraft wiederherzustellen, in seine Überlegungen mit einfließen. Die Reproduktion(sarbeit) als solche taucht aber nicht auf, weil sie keine Ware sein kann, denn diese bekommt erst dann einen Wert, wenn sie sich in einen Austausch begibt.1
Darüber hinaus ist die Unsichtbarkeit von Reproduktionsarbeit für kapitalistische Gesellschaftsformen notwendig, sagt Beatrice Müller, weil alle körperlichen und seelischen Bedürfnisse von Menschen als irrational, unkontrollierbar und somit als Bedrohung für die scheinbar gut funktionierende Gesellschaftsordnung empfunden werden. Gleichzeitig bildet sie aber das kostenlose Fundament, denn ohne Regeneration und Gesundheit gibt es keine funktionierende Arbeitskraft und ohne sie keinen Kapitalismus.2
Reproduktionsarbeit ist als Begriff erst im Zuge der zweiten Frauenbewegung entstanden, als marxistische Feminist*innen den blinden Fleck in Marx‘ Theorie thematisierten – die Formen von Arbeit, die die entlohnte Arbeit überhaupt erst möglich machen: der generative und regenerative Erhalt des Lebens, durch Gebären, Pflege, Betreuung, Erziehung, Haushalt, Reinigung und das umeinander Sorgen und die Arbeit an Beziehungen. Weil aber sowohl die Begriffe Reproduktions- als auch Lohnarbeit einer kapitalistischen Logik entspringen, bietet es sich an von Carearbeit zu sprechen. Diese orientiert sich an den konkreten Tätigkeiten des Sorgens, unabhängig davon ob sie entlohnt oder unbezahlt, privat oder professionalisiert verrichtet werden – denn die Grenzen sind manchmal schwimmend. Sie umfasst alle lebensnotwendige Arbeit, ohne die Gesellschaften nicht existieren und wirtschaften nicht möglich wäre. Konkret geht es um die Unterstützung der Entwicklung, Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von intellektuellen, körperlichen und emotionalen Fähigkeiten einer Person.3
Und täglich grüßt das Murmeltier – Aktuelle Entwicklungen
Mag diese Teilung von Sphären – bestehend aus einem männlichen Alleinernährer und einer „Hausfrau“ – bis in die 60er und 70er Jahre noch ansatzweise aufgegangen sein, so zeigte sie doch schon immer die hässliche Fratze des Patriarchats – ungerecht und mit der Konsequenz Frauen* in allen Facetten des Lebens, von Männern abhängig zu machen. Leider haben die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Prekarisierung und die Neoliberalisierung des Sozialstaats, nicht wirklich zu einer Aufwertung oder einer gerechten Verteilung von Carearbeit geführt.
Spätestens seit den 68ern begann das sogenannte Alleinernährermodell aus der Zeit zu fallen. Ein großes Ziel der zweiten Frauen*bewegung, nämlich die vollwertige Partizipation von Frauen* am Arbeitsmarkt, schien näher gerückt zu sein. Ein weiteres Einkommen wurde durch die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses aber auch schlichtweg notwendig. Politisch war man zwar auch bestrebt, ein Modell zu fördern, in dem alle erwachsenen Personen eines Haushalts erwerbstätig sind (Adult-Worker-Modell), Frauen* in den Arbeitsmarkt zu bringen und Careinfrastruktur zu schaffen, um die vorher von Frauen* geleistete Arbeit zu kompensieren. Gleichzeitig, und hier liegt des Pudels Kern begraben, wurden absichernde Sozialpolitiken zurückgefahren und die Verantwortung für Lebensrisiken vermehrt zurück aufs Individuum geschoben. Für das „Risiko“ Kinder zu kriegen oder pflegebedürftig zu werden, fühlte sich der Sozialstaat immer weniger verantwortlich und trotz steigender Zahlen erwerbstätiger Frauen*, wurde Carearbeit wieder mehr zur privaten Angelegenheit – nur mit zwei erwerbstätigen Personen.4
Kommen wir an dieser Stelle wieder zu den oben beschriebenen Sphären und Rollenzuschreibungen zurück, stellen wir fest, dass sich seit der Industrialisierung gar nicht so wahnsinnig viel geändert hat. Nur dass Frauen* jetzt erwerbstätig UND oft allein verantwortlich für Carearbeit sind. Die Soziologen Voß und Pongratz haben für Entwicklungen in der Arbeitswelt, die immer mehr Verantwortung für die erledigte Arbeit und die rationalisierten Prozesse erfordern, den Begriff des Arbeitskraftunternehmers etabliert. Natürlich haben sich es Feminist*innen nicht nehmen lassen, diesen auf die Lebensrealitäten von Frauen* und die meist von ihnen zu bewältigenden Vereinbarkeitsaufgaben zu übertragen: Frauen*, die versuchen müssen familiären Alltag neben der Erwerbsarbeit effizient zu planen, alle Alltagsorganisation mitzudenken (mental load) und trotzdem noch qualitativ hochwertige Beziehungsarbeit zu leisten, werden zu Arbeitskraftmanagerinnen*.5
Der Staat als Feminist!
Und hier kommt der Staat ins Spiel, denn zur Zeit scheint nicht erkennbar, dass die Bundesdeutsche Politik die passenden Antworten auf diese Doppelbelastung der Frau* liefert. Noch immer herrschen Gesetze vor, die das Alleinernäher*innenmodell fördern. So trägt etwa das Ehegattensplitting dazu bei, dass verheiratete Paare Steuervorteile genießen, wenn eine Person geringverdienend ist. Nicht nur ein Gender Pay Gap von 21% zeigt: Das betrifft in den allermeisten Fällen die Frau*. Doch damit nicht genug; Frauen* sind außerdem überdurchschnittlich oft von Altersarmut betroffen, ihre Karrieren weisen einen „Knick“ auf, wenn sie sich für Kinder entscheiden und zu allem Überfluss wartet Zuhause dann eben noch der überwältigende Teil der Carearbeit. Aufgeklärte Gesellschaft hin oder her, Studien belegen, dass Frauen* in Deutschland im Schnitt 52% mehr Zeit für unbezahlte Carearbeit investieren als Männer. Hochgerechnet bedeutet dass täglich 87 Minuten mehr Carearbeit, die Frauen* gegenüber Männern verrichten. In Konstellationen mit Kindern, steigt diese Diskrepanz (Gender Care Gap) sogar noch an. Schaut man sich die Paararrangements einmal genauer an, so ist zu erkennen, dass sich Rollenverteilung mileuübergreifend sehr ambivalent verändert. Bemerkenswerterweise sind vor allem bei Akademiker*innenpaaren, die sich selbst eine gerechte Aufteilung von Carearbeit zusprechen, alte Muster und Ungleichheiten erkennbar, wohingegen Angehörige des Arbeiter*innenmilieus zu pragmatischen und damit oft progressiveren Lösungen greifen müssen, um überhaupt über die Runden zu kommen.6
Doch wo liegt nun die Verbindung des Gender Care Gap zur Politik? Ganz einfach: Ein Sozialstaat muss sich auch daran messen lassen, inwiefern er in der Lage ist Geschlechterverhältnisse zu beeinflussen. Die heteronormative Gesetzgebung, wie etwa das zuvor beschriebene Ehegattensplitting, erschwert die gerechte Verteilung der Carearbeit. Dabei könnte es auch anders gehen! Verbesserungen bei den Regelungen zur Elternzeit beweisen, dass die richtige Gesetzgebung die eingerosteten Geschlechterverhältnisse lockern kann. Seit einigen Jahren können Väter in Deutschland so genanntes Elterngeld beantragen, wenn sie einen Anteil der Elternzeit Zuhause bleiben. Das bedeutet zwei weitere Monate Elternzeit. Diese neue Regelung führte dazu, dass inzwischen mehr als 2/3 der Väter Elternzeit nehmen, vor der Neuerung waren es gerade einmal 3,5%. Die Zahlen zeigen aber auch, dass Männer vorwiegend nur diese zwei „Vätermonate“ nehmen, die sonst verfallen würden. Nicht selten werden diese dann dafür genutzt, einen längeren Familienurlaub zu machen und nicht dafür, alltägliche Carearbeit zu erledigen und eine äquivalente Careperson zu sein. Elternzeit kann aber dazu beitragen, die Aufteilung der Carearbeit ein bisschen gerechter zu gestalten. Der Staat müsste diese Erkenntnis nutzen und seine Gesetzgebung dahingehend überarbeiten. Denn nicht nur Familien mit Kindern würden profitieren. Carearbeit betrifft uns alle, sei es die Pflege von Angehörigen, oder auch die eigene Haushaltsführung.
Für den Sozialstaat bedeutet das aber auch, sich an einem feministischen Leitbild zu orientieren und dieses mit all seinen Politiken konsequent zu verfolgen. Es muss in jeder Phase des Lebens möglich gemacht werden, neben Erwerbsarbeit auch ausreichend Zeit für die Pflege von Angehörigen und das Kümmern um Kindern und sich selbst zu haben, ohne dabei zu irgendeinem Zeitpunkt in existenzielle Nöte zu kommen. Dafür bedarf es beispielsweise der Neu-Definition des Normalarbeitsverhältnisses, einer Arbeitszeitverkürzung und flexibler Arbeitszeitmodelle, ein echtes Entgeltgleichheitsgesetz, eine flächendeckend ausgebaute und bezahlbare Pflege- und Betreuungsinfrastruktur, ein geschlechtergerechtes Steuersystem, u.a. die Abschaffung des Ehegattensplittings und vor allem eine Elterngeldregelung, die für eine wirklich paritätische Verteilung der Elternzeit sorgt.
Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang jedoch auch die internationale Perspektive. Es reicht nämlich schlichtweg nicht aus Frauen* in Deutschland zu stärken und ihnen eine bessere Position in der Aufteilung von Carearbeit zu verschaffen. In reichen Industrienationen, also auch Deutschland, verrichten die bezahlte Carearbeit zunehmend Personen mit Migrationsgeschichte und ganz besonders Frauen* mit Migrationsgeschichte. Wer es sich leisten kann, lagert die private Carearbeit aus. Die eher schlecht bezahlten Jobs werden durch Arbeitsmigrantinnen* besetzt und gerade in Osteuropäischen Ländern führt dies zu einem regelrechten Mangel an Pflegepersonal. Denn auch dort wird diese Arbeit meist von Frauen* verrichtet. Diese Entwicklung nennt sich Care Drain. Dies, die globale Verschiebung von bezahlter Carearbeit, und in Folge dessen häufig auch die Prekarisierung dieser Berufe, sind Folge der global care chain. Eine Politik, die die faire Verteilung von Carearbeit bedeuten soll, muss demnach immer international gedacht werden sowie unbezahlte und bezahlte Carearbeit zusammen denken; ein weites Verständnis von Carearbeit ist dringend nötig!
Klar sein sollte: Die Professionalisierung und Überführung in Erwerbsarbeit aller Care kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein, befördert sie doch die global care chain. Abgesehen davon erscheint es sinnvoll, dass manche Carearbeit Sache von Angehörigen bleibt, sofern sie es können und wollen. Studien beweisen, dass beispielsweise Personen mit altersbedingter Demenz körperlich schneller abbauen, werden sie aus ihrem gewöhnlichen Umfeld gerissen. Eine vollständige Professionalisierung jedweder Care scheint also nicht immer für alle Betroffenen die gesündeste oder logische Möglichkeit zu sein. Vor allem dann nicht, wenn wir mit einem weiten Carebegriff arbeiten, der auch die „Arbeit“ an Beziehungen oder das Auf-dem-Schirm-haben, ein Geschenk für den nächsten Kindergeburtstag besorgen zu müssen, beinhaltet. Auch ist in Frage zu stellen, dass lediglich die Bezahlung der Carearbeit dazu führt, dass Männer sich ihrer häufiger annehmen. Auch in bezahlten Careberufen sind Frauen* schließlich in der deutlichen Überzahl. Das eingangs erwähnte gesellschaftliche Verständnis des Mannes als den finanziellen Versorger und der Frau* als die sorgende Mutter und Ehefrau befeuert die stereotype Besetzung von Careberufen. Doch Carearbeit ist in erster Linie eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sodass wir genauso an Formen von Vergesellschaftung von Care arbeiten müssen. Denkbar wären hier selbstorganisierte Betreuungssysteme in Viertel und Generationenprojekte.
Ziel einer gerechten Carepolitik sollte vor allem eins sein: Wahlfreiheit. Egal welches Geschlecht, die unvermeidbare Carearbeit sollte in die Hände derer Fallen, die bereit sind sie zu übernehmen und nicht etwa weil finanzielle Umstände oder gesellschaftliche Rollenerwartungen es so vorschreiben.
1 Aulenbacher, Brigitte. (2015). Feministische Kapitalismuskritik. Einstiege ; 23 (1. Aufl.). Münster, Westf.: Westfälisches Dampfboot.
2 Müller, Beatrice (2016). Wert-Abjektion: zur Abwertung von Care-Arbeit im patriarchalen Kapitalismus – am Beispiel der ambulanten Pflege (1. Auflage). Münster: Westfälisches Dampfboot.
3 Winker, Gabriele (2015). Care Revolution: Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: transcript-Verlag
4 Jürgens, Kerstin (2010). Deutschland in der Reproduktionskrise, Leviathan: Berliner Zeitschrift für
Sozialwissenschaft. (Vol. 38.2010), 559–587.
5 Winker, Gabriele, & Carstensen, Tanja (2007). Eigenverantwortung in Beruf und Familie – vom Arbeitskraftunternehmer zur ArbeitskraftmanagerIn. Feministische Studien, (2007, Nr. 2), 277–288.
6 Koppetsch, Cornelia. (1999). Die Illusion der Emanzipation. Konstanz: UVK, Univ.-Verl. Konstanz.
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