Das böse Wort Enteignung und die Gesundheitspolitik – Philipp Türmer

- Posted by Author: Pauline Schur in Category: Artikel 04/21 | 6 min read

Enteignet die Enteigner*innen!

Enteignung! Kaum ein Wort wird so häufig so falsch benutzt. Vornehmlich von Lobbyvertreter*innen, FDP- und CDU-Politiker*innen – wobei die Grenze zwischen diesen Lagern ja bekanntlich nicht allzu deutlich ist. Bei Regulierungen des Wohnungsmarktes, Steuern und Abgaben, gerne im Zusammenhang mit der „kalten Progression“, wird gerne mit dem Bild des raffgierigen Staats, linken Parteien oder Mietervereinigungen unterstellt, enteignen zu wollen. Denn vermeintlich klar ist: Enteignungen sind immer böse.

Bei Marx wären die Enteigner*innen ganz anders zu verorten. Als Expropriateur*innen (= Enteigner*innen in komplizierter Sprache) werden diejenigen bezeichnet, die sich den Mehrwert fremder Arbeit aneignen. Kurz: Gewinne mit anderer Leute Arbeit machen, also insbesondere Eigentümer*innen der Unternehmen, die sich Dividende oder Gewinne auszahlen lassen. Daraus leitet Marx die Forderung ab, die Enteigner*innen zu enteignen und die Produktionsmittel wieder in die Hände der Arbeitnehmer*innen zu legen. In der historischen Betrachtungsweise Marx’ wurden diese ursprünglich gewaltsam entrissen. Eine Sichtweise, mit der sich FDP, die Zeitung „Die Welt” und Co. sicher weniger anfreunden könnten.

Nach der herrschenden juristischen Betrachtungsweise hätten beide unrecht. Demnach ist eine Enteignung nur eine staatliche Maßnahme, bei der ein Vermögenswert einer Person vollständig entzogen und einer anderen oder dem Staat zugewiesen wird, um damit eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen. Diese sind auch nicht per se zu verdammen oder Ausdruck der verkappten kommunistischen Weltherrschaft. Das Grundgesetz steht Eigentum sogar eher freundlich gegenüber und Enteignung wird als ganz normale staatliche Maßnahme gesehen.

Wenn also “Enteignungen” erstmal nichts Schlimmes sind, stellt sich die politische Frage: Was sollte enteignet werden?

Wenig hat die historisch-materialistische Betrachtungsweise Marx’ mit der formaljuristischen Sichtweise gemeinsam. Eine Parallele lässt sich aber erkennen: Bei Marx steht am Anfang des Kapitalismus die Enteignung der Bäuerinnen und Bauern. Und bis heute sind Landwirt*innen die Gruppe an der Spitze, wenn es darum geht, wer am häufigsten enteignet wurde. Nämlich immer dann, wenn irgendwo eine Autobahn gebaut werden soll; 2019 immerhin in gut 200 Fällen. Nach gut 400 Jahren –  und einem Klimawandel – kann man durchaus ein Fragezeichen dahinter setzen, ob nicht eine andere Schwerpunktsetzung geeignet wäre.

Die Liste derer, deren Enteignung zumindest von Manchen gefordert wird, ist zuletzt länger geworden.

„Die Banken!” – spätestens seit der Finanzkrise eine beliebte Forderung.

„BMW!” – kam 2019 für Viele eher überraschend dazu, als Kevin Kühnert das als Beispiel in einem Interview nannte.

„Deutsche Wohnen!” – das neuste und  wohl gerade bekannteste Beispiel.

Wirtschaftskrise, Klimakrise, Wohnungskrise. Die Liste liest sich wie das Protokoll des Marktversagens der letzten zwei Jahrzehnte und der zumindest mitverantwortlichen Unternehmen. Würde man sich abends bei einem Bier (es empfehlen sich die Marken “Rothaus”, “Weihenstephan” oder “Hofbräu München” als verbliebene drei Brauereien in staatlichem Eigentum) zusammensetzen, man würde bestimmt noch den ein oder anderen Namen ergänzen können.

Zwei Konzerne drängen sich aber geradezu auf: Helios und Sana.

Seit den 90er Jahren hat eine Privatisierungswelle im Gesundheitswesen stattgefunden. Waren 1992 noch 44,6% der Kliniken in öffentlichem, meist kommunalem Eigentum, schrumpfte dieser Anteil auf 28,7% zusammen im Jahr 2018. Auch der Anteil der gemeinnützigen Träger ging zurück. Allein die privatwirtschaftlichen Einrichtungen konnten sich von 15,5% auf 37,6% mehr als verdoppeln. Neben Asklepios sind Helios und Sana dabei die bedeutendsten Konzerne. Die privaten Kliniken werfen dabei beträchtliche Gewinne ab. Zusammen machten die drei Konzerne 2019 knappe 850 Millionen Euro Profit. Mit der Privatisierung Hand in Hand geht ein Rückgang der flächendeckenden Versorgung: Seit den 90ern ist die Anzahl der Betten um 25% gesunken. Kurz vor der Corona-Krise forderte die Bertelsmann Stiftung noch, die Gesamtzahl der Kliniken müsse weiter massiv von 1.400 auf 600 reduziert werden. Eine Forderung, die sich hoffentlich vor dem Hintergrund des alarmierenden Bettennotstands in der Corona-Krise, bei dem Patient*innen hunderte Kilometer zum nächsten freien Beatmungsgerät transportiert werden mussten, erledigt haben dürfte. Dass Deutschland dennoch vergleichsweise gut durch die Krise gekommen ist, mag sich vor allem dadurch erklären, dass die Versorgung insbesondere im ländlichen Raum durch in der Regel kommunal bezuschusste Häuser besser aufrechterhalten wird als in anderen Ländern mit noch stärker kapitalistischen Systemen.

Wer Gewinne maximieren will, der muss Einnahmen steigern und Kosten reduzieren. Es ist mehr als fraglich, ob dies die Leitlinien im Gesundheitssystem sein sollten. Im Ergebnis begünstigt es die, die es schaffen, den gesetzlichen Krankenversicherungen (also der Gemeinschaft der Versicherten, also uns) möglichst kreative Rechnungen im Rahmen der Fallpauschalen zu schreiben und Privatversicherten möglichst teure Leistungen zu verkaufen. Und Kosten reduzieren heißt vor allem: Personal kürzen und Löhne drücken. Zwar ist der Kostendruck auch bei kommunalen Kliniken hoch, aber im Unterschied zu den Privaten, ist dieser Resultat der Unterfinanzierung, während die Privaten bei steigenden Einnahmen immer zuerst ihre Anteilseigner*innen und nicht ihre Beschäftigten auszahlen werden.

Talking of which: Ausgerechnet in diesem Sommer, nach der schwersten Gesundheitskrise seit der Spanischen Grippe, kündigten die Konzerne Sana und Helios massive Stellenstreichungen beim Personal an.

Dabei legen Recherchen des MDR nah, dass das medizinische Personal insbesondere bei Helios teilweise schon vor den Entlassungen zu knapp war, um auch nur Notfälle ausreichend zu versorgen. Insbesondere von Verdi werden die Entlassungen vor dem Hintergrund der ohnehin prekären Arbeitssituation in der Pflege scharf kritisiert: Heute beklatscht und morgen entlassen. Und Überraschung:  Welche Unternehmen konnten ausgerechnet 2020 Rekordgewinne aufgrund staatlicher Unterstützung in der Pandemie einfahren? Genau: Helios und Sana. Gäbe es einen Preis für katastrophales Timing, die Vorstände von Sana und Helios könnten mit Sicherheit einen Platz in den Vitrinen ihrer Firmenzentralen frei räumen.

Dabei tragen die privaten Versorger nicht einmal zu einer Verbesserung der Qualität der Behandlung der Patient*innen bei. Das Ranking der besten Häuser in Deutschland wird durch die Bank von staatlichen Universitätskliniken angeführt.

Die Klinikkonzerne sind die Trittbrettfahrer des neoliberalen Privatisierungstrends der 90er und 2000er Jahre. Unterfinanzierte Kommunen wurden teilweise gezwungen zu symbolischen Beträgen von einem Euro Klinken an die großen Konzerne zu verkaufen. Frei von den rechtlichen und ethischen Zwängen, denen staatliche Betreiber unterliegen, werden seitdem fleißig Gewinne auf Kosten der Gemeinschaft gemacht. Wer sich länger mit Sana, Helios und Co. beschäftigt, der kommt nicht umhin, zunehmend Sympathie für die Marx‘sche Lesart zu entwickeln, in der vielmehr die kapitalistischen Unternehmer*innen diejenigen sind, die die Gesellschaft enteignen, als die, die der Gesellschaft das zurückgeben wollen, was ursprünglich ohnehin ihr gehörte.

Wer weg will von einem gewinnorientierten und hin zu einem versorgungsorientierten System der Gesundheitsversorgung, der muss an vielen Schrauben drehen. An dem der Fallpauschalen, dem Versicherungssystem, der Unterfinanzierung der kommunalen Träger. Ganz sicher gehört aber auch dazu, die Frage nach den Eigentumsverhältnissen der Kliniken zu stellen und anstatt Bäuerinnen und Bauern für neue Autobahnen, vielleicht einmal Sana, Helios und Co. für eine bessere Gesundheitsversorgung zu enteignen.

Und dabei ist nicht überraschend, dass all dies mit der Großen Koalition nicht möglich war. Die Union steht in der Gesundheitspolitik wie so oft an der Seite der Privatisierung und Konzerne anstatt auf der Seite der Gemeinschaft. So viel Menschen haben gerade in der Corona-Pandemie unser Gesundheitssystem noch mehr zu schätzen gelernt. Und viele haben schmerzlich festgestellt, dass gerade Krankhäuser an allen Ecken und Enden selber krank sind. Daran muss sich nun endlich etwas ändern. Deswegen heißt es auch für den Gesundheitsbereich: Bye, bye CDU/CSU – viel Spaß auf der Ersatzbank, während wir eine gesunde Zukunft machen.

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