Menschen, nicht Maschinen: Warum Krankenhäuser nicht wie Fabriken funktionieren können – Almut Großmann
In unserem Gesundheitssystem läuft richtig was falsch. Was vor der Pandemie schon an allen Ecken und Enden bröckelte, ist in den letzten anderthalb Jahren für alle in diesem Land sichtbar geworden: Der Lack ist ab, die Schäden am Gesundheitssystem sind offensichtlich.
Aber wir wollen ja bekanntlich dahin, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt und auch dahin, wo es anstrengend ist. Anstrengend wird es allemal, wenn wir wirklich etwas ändern wollen an unserem Gesundheitssystem. Und unangenehm auch, denn ein bisschen frischer Lack wird hier nicht helfen. Das Problem ist grundlegend.
Es beginnt bei der Frage, was Pflege, also Care-Arbeit, uns wirklich wert ist – oder unsere Gesundheit insgesamt. Es geht weiter mit der Frage, wie viel Solidarität zu geben wir bereit sind, wenn wir über Versorgung von Kranken, Pflegebedürftigen und Verletzten sprechen. Oder mit der Frage, wie eine echte moderne, vielleicht visionäre, utopische oder optimale Gesundheitsversorgung in der Zukunft aussehen könnte.
Was ist uns Pflege wirklich wert?
Seit Jahren erzählen Pflegekräfte von der hohen Arbeitsbelastung, schlechten Arbeitsbedingungen und unzureichender Bezahlung. Sichtbar wird das, wenn wir die Zahl der Patient*innen betrachten, die von einer Pflegekraft in einem Krankenhaus betreut werden muss. Diese Zahl ist in den letzten Jahren kontinuierlich auf 13 Patient*innen pro Pflegekraft angestiegen. Im internationalen Vergleich halten wir damit einen beeindruckenden Rekord – leider in negativer Hinsicht.
In der Folge verlassen immer mehr Pflegende ihren Beruf, aktuell schon durchschnittlich nach 7,5 Jahren. Die hohe Arbeitsbelastung durch den Personalmangel ist für viele der wichtigste Grund für einen Ausstieg. Dadurch nimmt die Zahl der Pflegekräfte noch weiter ab und die Zahl der zu betreuenden Patient*innen weiter zu – ein Teufelskreis. Je stärker der Personalmangel wird, desto mehr Pflegekräfte geben an, den eigenen fachlichen Anforderungen nur noch unter allerhöchstem persönlichen Einsatz oder durch Überschreitung der eigenen Grenzen gerecht zu werden.
Ob das Einspringen für Dienste aus dem Frei oder die Übernahme von mehr Zimmern als eigentlich für die Versorgung durch eine einzelne Pflegekraft vorgesehen, die große Menge an Dokumentationstätigkeiten oder die fehlenden Zeiten für Praxisanleitungen oder Begleitung von Pflegeschüler*innen – an allen Ecken und Enden fehlt es an Personal.
Es fehlt an allen Ecken und Enden
Für ein gute und würdige Versorgung aller Erkrankter, Verletzter oder Pflegebedürftiger ist die Pflege unerlässlich. Diese zentrale gesellschaftliche Aufgabe muss entsprechend entlohnt werden und Arbeitsbedingungen müssen sich verbessern.
Das Problem kann nicht mit ein paar kleinen Handgriffen gekittet werden. Aber irgendwo muss man anfangen, wenn man eine echte Veränderung herbeiführen will.
Die SPD verspricht mit dem Zukunftsprogramm, allgemeinverbindliche Branchentarifverträge zu erkämpfen. Außerdem wollen wir eine Erhöhung der Pflegemindestlöhne entsprechend der beruflichen Qualifikation durch die Mindestlohnkommission umsetzen. Damit wird die Entlohnung direkt angehoben.
Geld allein reicht nicht
Wir Jusos sind uns einig: Die Pflegekräfte müssen nicht nur besser entlohnt werden. Die Berufsgruppe, die eine so zentrale gesellschaftlich Aufgabe übernimmt, muss endlich mitreden – vor allem bei der Zukunft ihres eigenen Berufes und des Gesundheitswesens. In den Betriebs- und Personalräten, genau wie in den Gremien der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss.
Gleichzeitig muss die Teilakademisierung der Pflege endlich mehr Fahrt aufnehmen, um die Forschung und unabhängige Weiterentwicklung des Berufes zu ermöglichen. Das SPD-Zukunftsprogramm spricht sich dafür aus, dass Pfleger*innen sich jederzeit beruflich weiterentwickeln können. Eine Weiterbildung muss sich dann auch entsprechend in der Entlohnung widerspiegeln.
Außerdem verspricht das SPD Wahlprogramm auch in der Altenpflege oder in der ambulanten Pflege, dass Pflegeleistungen nur von der Pflegeversicherung bezahlt werden sollen, wenn dort Tarifverträge gelten.
Was ist uns unser Gesundheitssystem wirklich wert?
Paragraf zwölf des Sozialgesetzbuches V sagt: Leistungen, die durch das Gesundheitssystem erbracht werden, müssen wirtschaftlich sein. Doch was bedeutet das genau? Wie effizient kann Pflege sein? Wie viel Gespräch, Zuhören oder Unterstützung gehört dazu? Gehört die Verschreibung von Medikamenten, bei denen eine gute Wirksamkeit möglich, aber unwahrscheinlich ist dazu, nur weil diese günstiger sind, als die wirksamere Alternative? Sollte die zu erwartende Vergütung eines Eingriffs in die Priorisierung der Operation einfließen?
Natürlich müssen sich Wirtschaftlichkeit und gute Patient*innenversorgung nicht widersprechen, aber oft genug passiert es. Deshalb darf Wirtschaftlichkeit kein relevantes Kriterium in der medizinischen Versorgung sein.
Abgeleitet aus diesem Paragrafen und durch viele weitere Gesetze zementiert, ist unser Gesundheitssystem grundsätzlich darauf ausgerichtet, Gewinne zu erwirtschaften. An sich ist dieses System schon problematisch, denn die Zahlung der Krankenkasse orientieren sich schon nicht an den realen Kosten der Versorgung der Patient*innen.
Weg mit den Fallpauschalen
Im Krankenhaus erfolgt die Abrechnung mit Hilfe von sogenannten Fallpauschalen. In Abhängigkeit von Diagnose und durchgeführten Prozeduren werden Fälle in DRGs (diagnosis related groups) eingeteilt und pauschal abgerechnet. Die tatsächlich entstandenen Kosten, entsprechend den individuellen Eigenschaften, Bedürfnissen der Erkrankten oder Verletzten, spielen keine Rolle. Das führt dazu, dass eine Behandlung über den pauschalen Satz hinaus sich „nicht rechnet“.
Eigentlich ist das DRG-System dabei nur ein Verteilungssystem. Politisch wird das Gesamtvolumen der Vergütung von DRGs konstant gehalten. Soll also die Vergütung einer DRG steigen, so steigt zunächst nur die Bewertungsrelation. In der Konsequenz sinkt die Bewertungsrelation aller anderen DRGs.
Gesundheit muss mehr wert sein
Für uns Jusos ist seit langem klar: Das Gesundheitswesen ist keine Branche wie jede andere. Die Gesundheitsversorgung ist zentrale Aufgabe der staatlichen Daseinsvorsorge. Mit Gesundheitsversorgung soll keine Gewinnmaximierung durch Einsparung und Kostendruck möglich sein. Die Ein-zu-eins-Finanzierung der tatsächlichen Kosten hat es nicht in das Zukunftsprogramm geschafft.
Aber die SPD verspricht: Wir wollen die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen beenden. Gewinne, die im Gesundheitswesen erwirtschaftet werden, sollen verpflichtend in das Gesundheitssystem zurückfließen. Außerdem soll es eine bedarfsgerechte Grundfinanzierung der Kliniken und medizinischer Versorgungszentren geben. Damit können wir den Kostendruck bekämpfen und die Versorgung in den ländlichen Regionen erhalten.
Wie viel Solidarität sind wir zu geben bereit?
Wenn wir heute bei einer neuen Praxis anrufen oder uns in einer Ambulanz oder einem Krankenhaus vorstellen, lautet spätestens die zweite Frage: Wie sind Sie versichert? Gesetzlich oder Privat? Denn davon hängt eine ganze Menge ab: die Unterbringung auf unterschiedlichen Stationen, die Versorgung durch Assistenz-, Ober- oder Chefärzt*innen, in einigen Kliniken auch die Medikamentenauswahl, die Anzahl der ärztlichen Visiten, wie schnell ein Termin zur Verfügung steht oder die Empfehlung für weitere Untersuchungen.
Die SPD will die Bürger*innenversicherung einführen. Das bedeutet: gleich guter Zugang zu medizinischer Versorgung für alle. In eine solidarische Versicherung müssen alle einzahlen. Niemand kann sich dem Solidarsystem einfach entziehen. Eine bessere Finanzierung des Gesundheitssystems für alle ist möglich und auch eine hohe Qualität der Leistungen kann erhalten werden.
Nur gibt es dann eben keinen Unterschied mehr, je nachdem wie viel du verdienst oder wie du versichert bist. Chefärzt*innenversorgung für diejenigen, die besonders komplexe oder seltene Erkrankungen mitbringen. Untersuchungen und Vorsorgen nach Notwendigkeit und nicht zur Finanzierung einer Praxis oder zur Gewinnmaximierung eines Krankenhauses.
Weg mit der Meldepflicht
Außerdem sind nicht alle Mitglieder unserer Gesellschaft Teil der Krankenversicherung. Menschen ohne Aufenthaltstitel brauchen weiterhin einen Behandlungsschein vom Sozialamt. Nur so können Praxen und Krankenhäuser ihre Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz abrechnen. Die Sozialämter sind dabei Gatekeeper, die das Aufsuchen einer Praxis oder eines Krankenhauses genehmigen oder verhindern können.
Außerdem ist das Sozialamt verpflichtet, die Daten mit der Ausländerbehörde abzugleichen. So droht für die Menschen ohne Aufenthaltstitel, die auf das Gesundheitssystem zurückgreifen müssen, oftmals die Abschiebung. Circa 500.000 Menschen in Deutschland sind Schätzungen zufolge von dieser Situation betroffen.
Gesundheitseinrichtungen oder das Sozialamt müssen analog zu Bildungseinrichtungen von dieser Meldepflicht entbunden werden. Bildungseinrichtungen können so Kindern unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel Zugang zu Bildung zu garantieren, Gesundheitsversorgung muss ebenfalls unabhängig vom Aufenthaltstitel und ohne Abschiebung in der Folge für alle möglich sein.
Neben Menschen ohne Aufenthaltstitel waren ca. 143.000 Menschen im Jahr 2019 ohne Krankenversicherung. Die Zahl stieg in den letzten Jahren rasant an. Ein Grund: Immer mehr Menschen können im Alter die steigenden Kosten der Privaten Krankenversicherung nicht mehr bezahlen. Eine Bürger*innenversicherung könnte auch hier Absicherung schaffen.
Wie soll Gesundheitsversorgung in Zukunft aussehen?
Natürlich wollen wir das Gesundheitswesen nicht nur flicken oder eine 180-Grad-Wende hin zu einem bedarfsgerecht finanzierten und gerechten Gesundheitssystem schaffen. Wir wollen auch, dass sich die Gesundheitsversorgung permanent verbesser. Dazu gehören optimale Rahmenbedingungen, die medizinische Innovation und Forschung ermöglichen und fördern.
Insbesondere an den Universitätskliniken und ihren Instituten müssen wir statt permanenter Sorge um Drittmittel und Fortsetzung von Projekten und befristeten Stellen für Planungssicherheit durch Ausfinanzierung zur Unterstützung der Forschungsarbeit sorgen. Aber auch dort, wo Forschung im Rahmen von Kooperationen zwischen Universitäten und Unternehmen oder in Pharmakonzernen passiert, wollen wir sicherstellen, dass Forschungsergebnisse nicht nur einem kleinen Anteil der Weltbevölkerung zugänglich sind.
Die SPD hat mit dem Zukunftsprogramm klar gemacht: Wer staatliche Gelder bekommt, muss vertraglich den Zugang für alle Teile der Welt garantieren. Außerdem haben wir beschlossen: In einer Gesundheitskrise wie der aktuellen Coronapandemie müssen wir alle uns zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfen, um den Schutz aller Menschen zu gewährleisten.
Die Pandemie global besiegen
Dazu gehört zu aller erst die Versorgung mit Impfstoff. Nur mit Hilfe der Impfung werden wir die Pandemie beenden. Solange wir jedoch nur im globalen Norden größere Teile unserer Gesellschaft durchimpfen können, werden wir keine völlige Erleichterung erleben können. Deshalb müssen wir von der Zwangslizensierung, über die Verpflichtung zur Produktion oder auch die Verpflichtung zur Verfügungstellung von Fabriken und Produktionsorten und auch zur Aussetzung der Patente alle Möglichkeiten ausschöpfen.
Hinweis: Titel abgeguckt beim Bündnis Krankenhaus statt Fabrik
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Almut Großmann