Bildung für alle: Liebes BAföG, alles Gute zu 50 Jahren Chancengerechtigkeit – Benjamin Weiss
„Bildung für alle“ – unter diesem einfachen, wie einprägsamen Motto leitete die sozialliberale Koalition 1969 weitgreifende Reformen der Studienfinanzierung ein. Mit dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) erfolgte eine bislang ungekannte Bildungsexpansion in den frühen 70er Jahren. Einer ganzen Generation junger Studierenden wurde es als ersten in ihren Familien möglich, durch das als Vollzuschuss ausgezahlte BAföG zu studieren. Zu denjenigen, die damals von der Förderung profitiert haben, gehören auch Talkmaster Thomas Gottschalk oder Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
„Liebes BAföG, alles Gute zu 50 Jahren Chancengerechtigkeit“. Der offizielle Slogan der BAföG-Kampagne des Bildungsministeriums klingt nach einer ungebrochenen Erfolgsgeschichte. Tatsächlich ermöglicht das BAföG bis heute jungen Menschen, die es sich sonst nicht hätten leisten können, den Weg ins Studium. Doch deren Zahl ist seit Jahren rückläufig. Während bei Einführung unter der Regierung Brandt noch etwa die Hälfte aller Studierender BAföG erhielten, sind es heute nur noch ca. elf Prozent. Seit 16 Jahren befindet sich das Bundesbildungsministerium nun ungebrochen in der Ressortverantwortung der CDU. Die Ministerinnen Annette Schavan, Johanna Wanka und Anja Karliczek fielen dabei allesamt nicht gerade durch einen besonderen Innovationsgeist und Interessen an den Belangen der Studierenden auf. Trotz steigender Studierendenzahlen und insgesamt fünf BAföG-Novellen sank die Zahl der BAföG-Empfänger*innen kontinuierlich auf einen historischen Tiefstand.
Schavan leistete sich, statt eine konsequente BAföG-Novelle auf den Weg zu bringen, die besondere Peinlichkeit, als Wissenschaftsministerin aufgrund einer plagiierten Dissertation zurücktreten zu müssen. Wanka – gerade in Niedersachsen frisch abgewählt – profitierte von der darauffolgenden Kabinettsumbildung. Über kleinere Reförmchen kam (und wollte) sie jedoch auch nicht hinaus. Eine wirklich historische Chance ergab sich dann für Ministerin Karliczek im Zuge der Corona-Pandemie ab März 2020: Durch den Lockdown waren innerhalb kürzester Zeit praktisch alle Nebenjobs, unter anderem in Gastronomie und Veranstaltungsbranche, weggebrochen. Insbesondere also in den Bereichen, in denen sich Studierende mit Nebenjobs aufgrund fehlender oder nicht ausreichender BAföG-Förderung ihren Lebensunterhalt verdienen müssen.
Chancengerechtigkeit im Studium war bereits vor der Pandemie nicht gegeben. Spätestens mit dem Onlinestudium, existenziellen finanziellen Ängsten bei vielen Studierenden und sozialer Isolation wurde dieser Begriff aber vollständig zur Farce. Das BAföG deckte bereits zuvor bei weitem nicht alle Studierenden ab, die eine Förderung dringend benötigt hätten. Neben zahlreichen neoliberalen Reformen in der Ära Kohl liegt das nicht zuletzt an der fehlenden Anpassung des BAföG auf die neuen Lebensrealitäten im 21. Jahrhundert. Vorgesehen ist in der aktuellen Regelung die lediglich Förderung des Vollzeitstudiums in Regelstudienzeit. Müssen dazu soziale Verpflichtungen, wie die Pflege der Eltern oder eines Kindes, bewältigt werden, ist dies durch die bestehenden Förderungsmöglichkeiten nur äußerst unzureichend abgedeckt.
Drei Viertel der Studierenden arbeiten neben dem Studium. Das mag in manchen Fällen freiwillig der Fall sein, in den meisten ist es jedoch eine direkte Folge stetig sinkender BAföG-Förderquoten. Diese lassen sich eben nicht, wie von der Union in den vergangenen Jahren nahezu Mantra-artig beschworen, auf die gute Konjunkturlage zurückführen und zeigen eben nicht, dass immer mehr Studierende so reiche Eltern haben, dass diese ihnen ohne weiteres das Studium finanzieren können. Sondern vielmehr, dass die Förderkriterien mittlerweile so eng geschnitten sind, dass Studierende reihenweise von der Förderung ausgeschlossen werden. 71% der Studierenden mit einer sogenannten „niedrigen Bildungsherkunft“ – dazu zählen z.B. auch Kinder aus Arbeiter*innenfamilien – bekamen zuletzt einen negativen BAföG-Bescheid mit der Begründung, das Einkommen der Eltern sei zu hoch. In der Pandemie kamen damit insbesondere die Studierenden unter die Räder, die ob der lachhaft engen Einkommensgrenzen der Eltern gerade so kaum oder gar nicht BAföG-berechtigt sind. Außerdem Studierende, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, es aber durch den Lockdown nicht länger durften. Sowie Studierende, deren Eltern in Kurzarbeit ihnen keine Unterstützung bieten und die sich auf kaum bis gar nicht vorhandene eigene Ersparnisse stützen mussten. Diese vielen Studierenden in Notsituationen trafen jedoch im Bundesbildungsministerium auf Anja Karliczeks maximalen Unwillen, den Studierenden in Sachen finanzieller Unterstützung entgegenzukommen.
Schon wenige Tage nach der Verkündung des ersten Lockdowns stand die Forderung im Raum, das BAföG schnell und unbürokratisch zu öffnen. Wir Juso-Hochschulgruppen und Jusos waren eine der ersten, die auf diesen Notfallmechanismus im BAföG pochten. Schnell wurde diese Forderung von breiten studentischen Bündnissen in die politische Öffentlichkeit getragen. Doch eine Reaktion des Ministeriums ließ auf sich warten. Während Länder und sogar einzelne Hochschulen dazu in der Lage waren, Studierenden mittels Soforthilfeprogrammen unter die Arme zu greifen, sperrte sich das BMBF mit dem Argument, keine Mittel mit der Gießkanne verteilen zu wollen. Im Mai präsentierte man schließlich eine Kreditlösung über die staatliche KfW-Bank. Schuldlos in Not und vom Studienabbruch bedrohte Studierende sollten also nach Karliczeks Logik gefälligst ihre Corona-Hilfen schön wieder zurückzahlen. Auch eine kurze Phase der Zinsfreiheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei einem danach drohenden horrenden Zinssatz von 4,36% sehenden Auges in die Schuldenfalle geschickt werden. Zum Ende des Haushaltsjahres 2020 überwies Karliczek dann 342 Millionen Euro unabgerufene BAföG-Mittel zurück an den Bundeshaushalt. Ende der Pointe.
„Liebes BAföG, alles Gute zu 50 Jahren Chancengerechtigkeit“. Wenn sich Ministerin Karliczek im Sommer 2021 ernsthaft versucht, mit diesem Jubiläum zu schmücken, müssen dem ein paar fundamentale Dinge angefügt werden:
Erstens: Frau Karliczek ist eine Finanzpolitikerin. Sie kam trotz fehlenden fachlichen Bezugs ins Bildungsministerium und hat diesen, zumindest mit Blick auf die Interessen der Studierenden, bis heute vollständig vermissen lassen. Wenn eine Ministerin inmitten einer Pandemie lieber einen Betrag in dreistelliger Millionenhöhe an den Bundeshaushalt zurücküberweist, anstatt diesen für die Unterstützung der Studierenden einzusetzen, spricht das Bände. Mit einem chancengerechten BAföG, das Studierende auch in der Krise nicht im Stich lässt, hat es in jedem Fall nicht das geringste zu tun.
Zweitens: Der Elitismus der Union. Sinkende Förderzahlen und das offenkundig vollständig fehlende Gespür für die Interessen der Studierenden sprechen eine klare Sprache: Die Union möchte, dass nur Studierende, deren Eltern sich das leisten können, studieren sollen. Die anderen nicht. Akademiker*innen reproduzieren also Akademiker*innen, die gesellschaftliche Undurchlässigkeit bleibt gewährleistet und alles beim Alten. Konservativ eben. Bereits Helmut Kohl bremste in den 80er Jahren die sozialdemokratische Bildungsexpansion durch die zeitweise Umstellung vom Vollzuschuss aufs Volldarlehen. Schawan, Wanka und nun Karliczek haben diesen Eindämmungskurs fortgesetzt, nicht durch große regressive Reformen, sondern vor allem durch das kontinuierliche Blockieren progressiver Weitereinwicklungen. Die SPD hätte dafür bereitgestanden.
Drittens: Das BAföG ist eine sozialdemokratische Errungenschaft. Es ist ein, wie die letzte SPD-Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn treffend formuliert, „Herzstück sozialdemokratischer Politik“. Das BAföG wurde von der SPD eingeführt und, nachdem Kohl es kahlgeschlagen hatte, nur unzureichend wieder aufgebaut. Heute ist das BAföG erneut besonders reformbedürftig. Das BAföG muss endlich wieder die Studierenden in der Breite erreichen, so wie es von Anfang an gedacht war.
Dafür braucht es zweierlei: Eine Regierung ohne die Union und ihre ewigen politischen Blockaden. Und eine klare, in die Zukunft gerichtete, sozialdemokratische Handschrift im Bildungsministerium: Mit einer Rückkehr zum Vollzuschuss, damit insbesondere Studierenden aus Arbeiter*innenfamilien die Angst vor einem Schuldenberg nach dem Studium genommen wird. Mit einer Weiterentwicklung des BAföGs hin zur Elternunabhängigkeit. Und es geht um mehr, um einen Paradigmenwechsel: Das BAföG muss Studierende zu einem eigenen Leben, frei von der Abhängigkeit der elterlichen Finanzierung befähigen. Es soll allen Studierenden die eigenständige und unabhängige Entwicklung gewährleisten und eben kein umverteilendes Element sein ̶ zu diesem Zwecke verfügt unser Sozialstaat über andere Mechanismen. Wer es als solches verstehen will, spielt nur reaktionären Blockierer*innen in die Hände, die den Kreis der Studierenden so klein wie möglich halten wollen.
Nach der Bundestagswahl muss eine sozialdemokratisch geführte Regierung einen Schwerpunkt auf eine BAföG-Reform in diesem Sinne setzen. Eingeführt unter dem Leitspruch „Bildung für alle“ muss das BAföG 50 Jahre später endlich fit gemacht werden, um diesem Anspruch zu erfüllen. Mit der Union im Allgemeinen und Ministerin Karliczek im Besonderen wird dies nicht gelingen. Mit dem Regierungsprogramm der SPD und den starken Stimmen von Juso-Hochschulgruppen und Jusos bestehen alle Chancen für einen echten Neuanfang des BAföG.
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Benjamin Michael Weiss